4 Tore 40 Stufen / Insan –i Kamil
Das Erziehungskonzept im Alevitentum basiert auf einem Stufenmodell und wird als ein Reifungsprozess verstanden. Ziel der ganzen Erziehungsmaßnahmen ist es demnach, den Zustand des Insan-i Kamil (Vollkommener Mensch) zu erreichen. Der Mensch wird als Ergebnis der Erziehung betrachtet.
Grundsätzlich geht das alevitische Religionsverständnis davon aus, das der Mensch göttliches Potential in sich trägt. Aleviten schöpfen immer wieder Zuversicht aus dem Glauben daran, dass sie die heilige Kraft in sich tragen und dass Gott ihnen die Kraft und den inneren Frieden schenkt, um sich auf den Weg der Wahrheit zu begeben. Dieser Glaube ist die Quelle der Hoffnung auf Vervollkommnung. Aleviten gehen davon aus, dass am Ende dieses Prozesses der einzelne Mensch, wenn er seine heilige Kraft wieder entdeckt hat, sich mit Gott wiedervereinigen kann. Das nennt man im Alevitentum „die Vervollkommnung“ (insan-ı kamil olmak). Für Aleviten ist der Mensch mit Hilfe seines Verstandes fähig, Gott zu erkennen und selbständig zwischen Gut und Böse zu unterscheiden; somit ist die menschliche Vernunft „akıl“ für Aleviten eine Quelle der Offenbarung. Der Weg der Vervollkommnung wird den Aleviten in der Lehre aufgezeigt. Dies wird im Wertesystem „Vier Tore – Vierzig Stufen“ ausführlich beschrieben. Es ist für Menschen eine Lebensaufgabe, die sie in Angriff nehmen können, wenn sie das ’Eins werden mit der Wahrheit’ erreichen wollen.
Aleviten sehen auf dem Weg der Reifung drei Haupthindernisse, die es zu überwinden gilt: Das ‚Ego’ (nefs), die Habgier (tamah) und den Ehrgeiz (hırs). Um diese Hindernisse in sich zu überwinden, muss sich der Mensch darüber klar werden, wie er damit fertig werden kann. Dazu soll er sich am Anfang einen Wegweiser (Lehrer) suchen.
Der große Dichter Pir Sultan Abdal bezeichnet das ‚Ego’ als den im Menschen verborgenen Teufel, der nach seiner Überzeugung durch die eigene Liebe zu Gott vernichtet werden kann. Dazu schreibt er:
Koyup dünya davasını
Hakka verip sevdasını
Doğrulayıp öz nefsin
Şeytanı öldüren gelsin (Pir Sultan Abdal)
Nur solche Freunde sollen mitkommen,
die keine weltlichen Güter verehren,
die Gott ihre Liebe zeigen,
die dem eigenen Ego die Stirn bieten
und den eigenen Teufel umbringen/töten können.
(Übersetzung: Ismail Kaplan)
Das alevitische Gebet hat auch das Hauptziel, diesen Reifungsprozess zu fördern und voranzutreiben und so letztendlich die Vervollkommnung zu erreichen. Im Ritual des Cem-Gottesdienstes wird offengelegt, ob von Gottesdienst-Teilnehmern Ungerechtigkeiten gegenüber Menschen (und gegenüber Tieren) begangen wurden. Wenn dies der Fall ist, dann werden diese Fälle besprochen und aus der Welt geschaffen. Ohne ein Einvernehmen zwischen den Gottesdienst-Teilnehmern erreicht zu haben, kann das zentrale gottesdienstliche Gebet nicht vollzogen werden. Das Einvernehmen (rızalık) geht in vier verschiedene Richtungen: Einvernehmen mit sich selbst, Einvernehmen mit den Mitgliedern der Gemeinde, Einvernehmen mit der Natur und Ein-vernehmen mit Gott.
Aleviten sind davon überzeugt, dass Gott von Menschen erwartet, dass sie in der Lage sind, Ungerechtigkeiten zwischen sich – und das heißt dann auch ‚in ihren Gemeinschaften’ – auszuräumen. Solche Ungerechtigkeiten- materielle, soziale und emotionale Ungerechtigkeiten- kommen nicht von Gott, weshalb Menschen und insbesondere Aleviten nicht von Gott erwarten sollen, dass er die von ihnen in die Welt gesetzten Ungerechtigkeiten beseitigt. Dafür hat Gott den Menschen die Gabe der Vernunft geschenkt.
Das Endstadium der Vervollkommnung heißt im Alevitentum „En-el Hak“, d.h. „ich habe meine Wahrheit/Göttlichkeit wiederentdeckt“. Dieser Begriff geht zurück auf Hallac-ı Mansur, der im 10. Jh. in Bagdad lebte und im Jahre 922 wegen Gotteslästerung zum Tode verurteilt und anschließend hingerichtet wurde. Er gilt unter Aleviten als Heiliger und wird im Cem-Gottesdienst geehrt. Wenn ein Cem-Gottesdienst stattfindet, so wird der Platz in der Mitte als ‚Platz von Mansur` (Mansur darı) bezeichnet.
Das Wertesystem „Vier Tore–Vierzig Stufen“ (4 kapi 40 Makam) beschreibt den Weg, den eine Person in Begleitung eines Geistlichen (dede, pir, mürsit, rehber) durchläuft, um Selbsterkenntnis zu erlangen. Dieser Geistliche führt sie durch eine Reihe von vier „Toren“ (kapi), von denen jede wiederum zehn „Stufen“ (makam) beinhaltet. Jedes der vier Tore hat seine Besonderheiten und eigene Regeln. Sie sind Wegweiser und Leitlinien für den Weg eines Menschen zum Ziel der Vervollkommnung. Als absolutes Ziel für das Leben von Aleviten wird formuliert: „Mein Gott, bringe uns zur Gruppe der Geretteten“ (güruh-u naci).
Im Folgenden werden die 4 Tore und 40 Stufen angeführt:
Das erste Tor / Seriat kapisi (Ordnung, Grundbekenntnisse)
Dieses Tor wird durch die Befolgung der zehn Stufen erreicht:
- Glauben und bezeugen (Glaubensbekenntnis aussprechen),
- Lernen (sich mit unterschiedlichen Lernfeldern beschäftigen),
- Gottesdienst verrichten (dazu gehört beten, fasten, Gaben geben),
- Ehrliches legales Einkommen haben,
- Ausbeutung und Ungerechtes vermeiden,
- Achtung der Natur und gegenseitiges Verständnis von Mann und Frau,
- Die Ehe suchen (außereheliche Verhältnisse vermeiden),
- Fürsorge für Andere zeigen,
- Reines Essen zu sich nehmen, sauber sein,
- Gutes wollen und tun.
Das zweite Tor / Tarikat kapisi (mystischer Weg)
Durch die Befolgung der folgenden zehn Stufen wird Tarikat kapisi erreicht:
- Sich dem geistlichen Lehrer (pir) anvertrauen,
- Sich dem Lernen hinzugeben,
- Nicht aufgrund des äußeren Aussehens von Menschen diskriminieren,
- Eigenes Ego bremsen und dagegen kämpfen, geduldig sein (sabir),
- Achtung haben,
- Ehrfurcht haben,
- Auf Gottes Hilfe hoffen,
- Sich auf den Weg Gottes begeben,
- Gemeinschaft bezogen sein, Harmonie zeigen,
- Menschen und Natur lieben und achten.
Das dritte Tor / Marifet Kapisi (Tor der Erkenntnis)
Die Erkenntnis wird nach alevitischer Vorstellung durch die Befolgung der folgenden zehn Stufen erreicht:
- Sich gut benehmen und anständig sein,
- Ehrenhaft leben,
- Geduldig sein,
- Genügsam sein,
- Schamhaft sein,
- Freigiebig sein,
- Wissen erwerben,
- Ausgewogenheit und Harmonie bewahren,
- Gewissenhaft sein,
- Selbsterkenntnis üben.
Das vierte Tor / Hakikat kapisi / (Wahrheit, göttliche Wahrheit)
Folgende zehn Stufen führen nach alevitischer Vorstellung zu Hakikat:
- Bescheiden sein, alle Menschen achten und ehren (Toprak gibi ol; Turab),
- An die Einheit von Allah, Muhammed und Ali glauben,
- Beherrsche dich („Hüte, deine Hand, deine Zunge und deine Lende“); nicht lügen, nicht stehlen und nicht gewalttätig werden, keine Untreue in der Ehe,
- Allem Geschaffenen gegenüber Liebe zeigen,
- Gott Vertrauen schenken,
- Austausch und den Dialog mit Menschen suchen, um mit Gott und seiner Gemeinde eins zu sein (Yunus Emre: „Ich habe genug an der Spaltung/Trennung gelitten, ich genieße jetzt das Zusammensein.“) (İkilikten usandım, birlik hanına kandım.),
- Erkenntnis erfahren und dabei Gott näher kommen,
- Einvernehmen mit Göttlichem zeigen,
- Nachdenken
- Das Herz von der Sehnsucht nach Gott erfüllen lassen, um das Geheimnis Gottes zu erfahren.
Der Weg zur Vervollkommnung, der mit Liebe und mit Vernunft gegangen wird, ist der fruchtbarste und richtige Weg. Die Vernunft ist nach alevitischer Ansicht die wertvollste Gabe und ein Schatz Gottes, dessen Bedeutung immer wieder im Alevitentum zur Sprache gebracht wird. Unten werden hierfür einige Sprüche als Beispiel angeführt:
- Ein Spruch des heiligen Propheten Muhammet besagt: „Eine Minute nachzudenken ist wertvoller als 70 Jahre zu beten.“
- Der heilige Ali sagte: „Ich diene demjenigen, der mir das Wissen vermittelt, und wenn es auch nur eine Buchstabe sein soll.“
- Haktan inen serbeti içtik elhamdülillah
Kuru idik yaş olduk, ayak idik baş olduk,
Kanatlandik kuş olduk, uçtuk elhamdülilah (Yunus Emre)
Wir waren trocken, wurden feucht (lebendig),
wir waren Fuß, wurden Kopf,
Beflügelten uns, wurden Vögel, flogen-
Lob, gepriesen sei Gott! (Übersetzung: Annemarie Schimmel)
- “Eline, diline, beline sahip ol ki, edeb sahibi bir insan olasın” (Haci Bektas Veli / Makalat)
„Hüte, deine Hand, deine Zunge und deine Lende, damit du ein Mensch mit guten Manieren wirst/bleibst“
Quellen:
- Alevitische Gemeinde Deutschland e.V. (AABF), Das Alevitentum, Hrsg. AABF (verfasst von Ismail Kaplan), Köln 2004.
- www.alevi-du.com